von Hilke Lorenz
Mütter von schwer pflegebedürftigen Kindern haben kaum Zeit für sich. Ihr Leben ist ein 24/7-Job. Judith Schächterle kommt mit ihren zwei Kindern deshalb regelmäßig ins Hospiz.
Die Zeit war reif, Judith Schächterle am Limit. Elf Monate war ihr Sohn Kiron da alt. Und seit seinem dritten Lebenstag drehte sich im Leben seiner Eltern so ziemlich alles um die Versorgung ihres Kindes. Denn bereits wenige Tage nach seiner Geburt hatte Kiron noch in der Klinik den ersten Krampfanfall. Zweieinhalb Monate
seines ersten halben Lebensjahres verbrachte der Säugling zur Diagnostik und Beobachtung dann im Krankenhaus.Und mit ihm seine Mutter. Kiron war mit einer Genmutation auf die Welt gekommen, die sich in epileptischen Krampfanfällen äußert, die manchmal im Halbstundentakt kommen und gehen und medikamentös nicht einstellbar sind. Judith Schächterle, Kiron und sein Vater fuhren also für ein paar Tage in ein Kinderhospiz. Und es geschah, wovor Judith Schächterle sich am meisten gefürchtet hatte und weshalb sie extra ein kleines Hospiz mit nur drei Plätzen gewählt. In der Pfalz war das damals noch. Da würde sie nicht so viele sie beunruhigende Geschichten von den anderen hören. So ihre Hoffnung. Denn vor diesen Geschichten hatte sie Angst. Und dann starb da ein Kind am Tag nach ihrer Ankunft im Alter von nur sechs Wochen. Der Tod war da. Ganz nah und unausweichlich. Doch gleichzeitig erlebte Kirons Mutter auch, wie gut sie aufgehoben war an diesem Ort. Wie alle wussten,was jetzt wichtig ist. Ein Kinderhospiz, das ist ein Ort, so hat sie in diesem Moment gelernt,an dem sie auf Menschen trifft, „auf die ich mich verlassen
kann.“ Nicht nur, wenn es ums endgültige Abschiednehmen geht, sondern auch ums Leben. Auf die Gespräche mit den anderen, die die junge Mutter anfangs so sehr gefürchtet hat, freut sie sich heute. In denen geht es um die Dinge, die sie mit anderen Eltern nicht besprechen kann. Um die Träume, die sie aufgeben musste. Aber auch um den manchmal grotesken Irrsinn dieses Lebens am Anschlag.
Heute ist Judith Schächterle –inzwischen alleinerziehend – 47 Jahre alt. Ihr Sohn ist neuneinhalb und hat eine dreieinhalbjährige Schwester. Das heißt, Judiths Schächterles Leben als Mutter ist eng getaktet und sie selbst erstellt inzwischen mit der Routine einer Managerin für sich selbst Schichtpläne für die Betreuung ihres Sohnes, um den Überblick zu behalten. Die Tübingerin führt ein Leben in Daueranspannung. Die Einheit, die für sie zählt, ist die Energie, die ihr zur Verfügung stehe.
„Krankwerden geht nicht“, sagt sie und greift zu einem Papiertaschentuch, um sich die Nase zu schneuzen. Mit ihren beiden Kindern hat sie die Tage über Weihnachten im Stationären Kinder- und Jugendhospiz in Stuttgart verbracht. Hier hat sie es sich gegönnt, mit ihrer Erkältung einfach mal einen ganzen Tag im Bett zu bleiben. Was für ein Luxus. Und es ist nicht der einzige. Auch Kiron tut dieser Aufenthalt sichtlich gut. Er schläft hier in einem freundlichen Zimmer in einem weißen Kinderpflegebett, den Teddy an seiner Seite. Er wird in der Nacht gut überwacht, während seine Mutter mit ihrer kleinen Tochter in einem Elternappartement endlich mal durchschlafen kann. „Kiron hat weniger Krampfanfälle und isst mehr als Zuhause“, sagt sie erleichtert und zufrieden. 28 Hospiztage stehen Müttern und Vätern wie Judith Schächterle pro Jahr zu. Die Ferien sind natürlich besonders begehrt, wenn auch die Geschwisterkinder frei haben.
Drei bis vier Mal im Jahr zieht die Mutter nun regelmäßig mit ziemlich viel Gepäck ins Hospiz. „Wir brauchen einen Krankentransport mit Anhänger“, sagt sie, während sie an Kirons Bett steht. Sie zeigt auf die Dinge, die er täglich braucht: seinen Therapiestuhl für drinnen, den ausladenden Buggy, die Aufrichtvorrichtung, in die sie ihn jeden Tag schnallt, damit er die Welt auch mal aus einer anderen Perspektive sieht. Kiron, der nicht sprechen kann, motorisch stark eingeschränkt ist und dessen kognitive Entwicklung noch auf der Stufe eines Säuglings stehen geblieben ist, muss rund um die Uhr betreut werden. „Er reagiert auf Klänge und auf Berührung“, sagt seine Mutter. „Davon profitiert er.“ So oft es geht, nimmt sie Kiron deshalb in den Arm und streicht ihm sanft übers Gesicht. Aber da ist ja auch noch seine kleine Schwester, die ihre Mutter genauso braucht. Und zwischendurch versucht Judith auch noch für sich freie Zeit zu organisieren. Ein paar Stunden sind das, um, wie die diplomierte Übersetzerin für Spanisch und Französisch sagt, arbeiten zu gehen. Damit sie selbst krankenversichert ist. Der aktuelle Pflegenotstand und die vielen Krankheitsausfälle bestimmen auch ihr Leben. Vor allem die Nächte. Wenn der Anruf kommt, dass niemand kommen kann, um bei ihrem Sohn zu wachen, legt Judith eine Nachtschicht ein. An Schlaf kann sie dann nicht denken.
Wie viele Menschen es braucht, um ein Kind wie Kiron durch Leben zu begleiten, zeigt ein großer Vogel mit ausgebreiteten Schwingen, der im Garten des Hospizes aufgestellt ist. Für ein Kunstprojekt hat Judith Schächterle 100 Fotografien von Freunden, Verwandten und Kiron selbst zusammengetragen. Sie alle sind das Federkleid des Vogels und umschließen ihn. Auch ein Ultraschallbild von Kiron ist dabei. Und ein Bild von der Reise, die sie mit ihrem Sohn allen Widerständen trotzend gemacht hat, als er zwei Jahre alt war. „Ich werde nie mit ihm nach Brasilien zu meinen Freunden reisen können“, hatte sie einer Psychologin gesagt. „Doch. Das werden Sie“, hatte die Frau sie bestärkt. Judith Schächterle hat es getan. Mit Hilfe ihres Bruders, der sie begleitete. Dieser Traum wurde wahr. Am Mittwoch hat sich die Familie im Hospiz wieder verabschiedet, um zurück nach Hause zu fahren. In den Alltag. Die häusliche Nachtschicht für ihren Sohn hat Judith Schächterle
schon lange zuvor geplant.
Quelle: Stuttgarter Zeitung vom 30.12.2022 / Hilke Lorenz
Foto: Lichtgut/ Max Kovalenko
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